Rolf Goergen, 1998 |
Weinberg-Sauen |
Weinberg-Sauen
von Rolf Goergen
Überall im Kreisgebiet und weit
darüber hinaus waren die
Schwarzwildbestände gewaltig in die
Höhe geschnellt. Woran das rapide
Anwachsen der Population liegt, dürfte
mittlerweile allgemein bekannt sein:
Üppiges Fraßangebot, mehrere milde
Winter ohne Schnee in Folge und
verregnete Mondphasen, um nur einige der
Punkte zu nennen. daß die jährliche
Zuwachsrate im günstigen Fall bei 200
Prozent (und mehr) liegen kann, hat sich
ebenfalls herumgesprochen. Ja, und von
den Folgen können die Garten- und
Weinbergsbesitzer hier an der Mosel
(selbstverständlich auch anderswo) ein
Lied singen. Selbst die Anpflanzungen in
unmittelbarer Nähe der Dörfer werden -
zum Kummer der hart arbeitenden
Bevölkerung - regelrecht geplündert.
Sogar Erdbeeren und
Blumen...
Eines Morgens stand eine völlig
aufgelöste Frau vor meiner Tür und
beklagte mit Tränen in den Augen den
Verlust ihrer gesamten Frühkartoffeln
und Erdbeeren. Als besondere
"Zugabe" hatten die
nächtlichen Raubritter der armen Frau
dann auch noch die bunte Blumenpracht im
Garten "umgestülpt".
Eine ältere Winzerin hielt mir einen
halbgefüllten Eimer Rieslingtrauben
unter die Nase mit der bitter klingenden
Bemerkung: "Gucke mol, dat
sein die Trauwe von 90 Stöck im
Colmet!"
Der "heiße
Berg"
Die Weinlage Calmont ist es wert,
einige erklärende Worte
vorauszuschicken. Nach Überlieferungen
ist diese Gemarkungs- bzw.
Lagebezeichnung eine Ableitung aus dem
Lateinischen und heißt soviel wie
"Heißer Berg". Schon die
Römer hatten seinerzeit erkannt, daß in
diesen extrem steilen Moselhängen der
Wein zur vollen, fruchtigen Reife
gedeiht.
Und mit sage und schreibe 70 Grad
Steigungswinkel (das ist die Gradzahl
einer richtig aufgestellten
Hochsitzleiter) bildet der Calmont eine
absolute Ausnahmeerscheinung sämtlicher
deutschen, ja sogar europäischen
Weinanbaulagen. Mit nicht geringem Stolz
behaupten darum die Bremmer: "Über
unserem Dorf befindet sich der steilste
Weinberg Europas".
Die Sauen schert weder der immense
Steigungsgrad des Geländes noch die
damit verbundene Problematik der Menschen
in Sachen Bebauung und schon gar nicht
die Sorge der Winzer um ihre wertvolle
Frucht. Die unmittelbar über den
Bebauungsflächen liegenden Brachen mit
mannigfaltigen Buchsbaum- und verfilzten
Brombeerhorsten bilden ruhige und absolut
störungsfreie Einstände, die selbst an
bitterkalten Wintertagen mit beißendem
Nord- und Ostwind dem Schwarzwild ein
angenehmes "Wohnen"
ermöglichen. Außerdem ist der Anmarsch
zur saftig-aromatischen
"Weinlese" im Herbst von
angenehmer Kürze und Würze.
Die urigen Borstenträger sind
freilich nicht nur hinter den
Gartengewächsen und edlen Weintrauben
her. Eine weitere Bereicherung ihres
Speisezettels bildet der von den Winzern
hochgeschätzte
"Wingertsschlot"
(Weinbergssalat). Dieses
löwenzahnähnliche Felsengewächs (es
blüht allerdings blau, hab ich mir
sagen lassen) verführt die Sauen oftmals
zu den waghalsigsten Kletterpartien, die
hin und wieder zu Abstürzen führen.
"Schießen, was
sonst?"
Nun, mittlerweile hatten die Sauen den
Dörflern so viel Ungemach bereitet, daß
der Bürgermeister die Angelegenheit auf
die Tagesordnung einer
Gemeinderatssitzung setzte. Eine Frage
lautete: "Was können die Jäger
hierbei tun?" "Nichts einfacher
als das", war die Meinung:
"Schießen! Was sonst?" Aber
das war einfacher gesagt als getan. Kein
Hochsitz weit und breit, und das
Schießen, zumindest in den Flachlagen
der Gärten, ist alles andere als
ungefährlich.
Anders stellt sich die Situation in den
Steilhängen dar. Hier bietet sich
zumindest teilweise die Gelegenheit, von
Hang zu Hang mit optimalem Kugelfang zu
schießen. Dafür treten wiederum andere
Probleme zutage: die Bergung des
gestreckten Wildes. Besonders in den
Extremlagen des Calmont ist diese Tortur
einem waghalsigen Unterfangen
gleichzusetzen, das durchaus an das Limit
körperlicher Leistungsfähigkeit
heranreicht. Deshalb tauchte unter
anderem die Frage auf: Kann ein in die
Jahre gekommener Jäger hier überhaupt
noch jagen? Oder muß er von vornherein
die "Flinte ins Korn",
Entschul¬digung, "die Büchse in
die Weinreben werfen?" Denkste.
Nicht die Spur altersbedingten
"Zurücksetzens". Für
ortskundige Jäger, die gelernt haben,
richtig zu jagen, ist das Waidwerk in
schwierigem Gelände eher eine
willkommene Herausforderung sowie die
Bestätigung einst erworbener
Erfahrungen. Hier zählt nur der eiserne
Wille und der rustikale körperliche
Einsatz. Wenn dann allerdings noch etwa
wadenhoch der Schnee liegt und unter
diesem eine heimtückische Eisglasur
lauert, verflixt, dann wird es sogar für
erfahrene Jäger haarig, aber
interessant...
Die Sauen sind da
Ein
herrlicher Wintertag Anfang Januar. Seit
Tagen wurden die Sauen im Calmont
beobachtet, praktisch zu allen
Tageszeiten. Jeder im Dorf, der einen
"Operngucker" besaß, den man
mit viel Wohlwollen auch als Fernglas
bezeichnen konnte, hockte am Fenster und
beobachtete die ungeniert umherziehenden
"Kartoffel- und Traubendiebe".
Mancher kernige Spruch machte die
Runde: "Do loofen die Schwein am
helle Dach (Tag) in de Wingert rum, un
keener scheeßt se dut!" Es mußte
etwas geschehen, das war klar. Zunächst
stand jedoch ein Zahnarzttermin auf dem
Pro¬gramm. Ein Zurück gabs nicht.
Es war schlimmer als erwartet. Als ich
aus dem widerlichen Marterstuhl kroch,
fehlte einer meiner Molaren. War der
"Zahn¬klempner" etwa
Jagdgegner?
Wie dem auch sei: Zu Hause angekommen,
wurde erst mal Kamillentee gebrüht, um
die Wunde zu spülen. Gleichzeitig griff
ich zum Fernglas (liegt oft griffbereit
im Bad) und spekulierte in den weiß
verschneiten Calmont.
Zwei Stellen gibts, die man bei
entsprechendem Wildanblick anpürschen
kann: der "Leiering" und die
breit auslaufende "Fachkaul".
Größter Erfolgsgarant ist ersterer.
Hinter einem gras- und moosbewachsenen
Felsengrad vermag man das Wild völlig
unbemerkt anzugehen und - wenns
paßt zu erbeuten. Die Schußentfernung
beträgt allenfalls 70 Meter. Und genau
in diesem Abschnitt sah ich mit dem
ersten Blick Sauen, viele Sauen. Nun
gabs kein Halten mehr. Der Tee
landete achtlos im Waschbecken. Mein
lädiertes "Gebrech" war
vergessen; Schuhe an, Büchse gepackt und
mit Karacho bis zur Aufstiegsstelle
gebraust.
Da mein Auto im Dorf bekannt ist wie
eine bunte Kuh, wurden die Beobachter
sofort hellwach. Ja, endlich, jetzt
würde was passieren... Höchste
Alarmbereitschaft war angesagt, die
Gläser kaum noch von den Augen genommen.
Jeder war in diesem Moment
Jagdteilnehmer. Als einheimischer
Revierbetreuer beruhigt es einen
ungemein, wenn man jeden Tag aufs neue
spürt: Hier im dörflichen Bereich, hier
bei den "Eingeborenen" gibt es
keine militanten Jagdgegner. Falls es
doch mal zu Ungereimtheiten mit der
grünen Zunft kommen sollte, liegt es in
der Regel am unbeherrschten Verhalten
einiger Jäger selbst. So was soll ja
vorkommen.
Schwieriger Aufstieg
Der Aufstieg war gefährlich. Mit
einem alten Weinbergspfahl stützte und
sicherte ich mich, so gut es eben ging,
ab. So kraxelte ich Meter für Meter
gegen den Berg. Jeder Tritt, jeder
Schritt mußte peinlich genau abgewogen
werden. Ein Fehltritt oder Ausrutscher
könnte verhängnisvolle Folgen haben.
Die Eckpunkte des Serpentinenpfädchens,
dicht an abfallender Felsenwand, mied ich
tunlichst. Bald lag die Rebenregion unter
mir.
Jetzt mußte ich Zickzack über und
durch hüfthohes Brombeergewucher.
Längst hatte ich keinen trockenen Faden
mehr am Leib. Aber weiter ging es, immer
höher hinauf. Würden sich die Sauen
überhaupt noch im Leiering aufhalten,
oder waren sie mittlerweile bereits
weitergezogen? Seis drum:
Weiterklettern hieß die Parole.
Dann war es endlich soweit. An einem
grünen Buchsbaumast zog ich mich in
Richtung Gipfel. Vorsichtig und ganz
behutsam schob ich den Kopf über die
Kuppe - und sah nichts, rein gar nichts.
Wars das? Nein, nur nicht voreilig
aufgeben; Ruhe bewahren. Verschnaufend
auf dem Rucksack thronend, ließ ich die
Blicke schweifen. Halblinks, etwa 50
Meter bergwärts, fielen mir
kreisförmige, schneefreie Löcher in den
Brombeerhecken auf. Na, sollten dort
etwa... Als ich den Blick wieder dem
"Leiering" zuwandte, stand am
oberen Rand wannenbreit ein kompakter
Überläufer. Auf dem Bauch liegend,
setzte ich ihm das Geschoß in die
zoftige Winterschwarte, mitten ins Leben.
Mein Wutz rutschte einige Meter in die
schroffe Steinhalde und blieb
schließlich an einem Buchsbaumstrunk
hängen. Na also!
Plötzlich ein Rauschen und Prasseln
halblinks von mir. Ein kräftiger
Überläuferkeiler schoß buchstäblich
aus einem der kurz zuvor gesehenen
schneefreien Löcher und flüchtete wie
der Leibhaftige über eine schmale
Rebenterrasse in die angrenzenden, mit
Buchsbaum bestockten Felsen. Ende der
Vorstellung? Und nochmals nein: Es ging
sogleich weiter. Justament, als ich die
Büchse sichern und absetzen will, sehe
ich erneut Sauen. Diesmal sind es zwei
Frischlinge, die drüben auf dem Wechsel
der ersten Sau vertraut verhoffen.
Erneuter ruhiger Anschlag im Liegen. Noch
kurz das beschlagene Okular vom Zielglas
abgewischt, dann fällt der Schuß. Das
etwa 40 Pfünd wiegende Wutzchen liegt
ebenfalls im Knall, rührt keine Borste
mehr. So ist es mir am liebsten. Ein
Blick auf die Uhr sagt mir: 16 Uhr, Zeit
für einen Schluck Kaffee.
Was sagt uns die
Geschichte?
Nun, sie veranschaulicht uns, daß man
auch unter Tag durchaus erfolgreich Sauen
erlegen kann. Ubrigens: Die beiden
Schwartenträger hatten alles andere als
Hunger und Not gelitten; mehr als einen
Eimer voll Weißes löste ich heraus und
hing es später für unsere gefiederten
Freunde in die Bäume des Gartens. Auch
ein Hegebeitrag.
Unsere Altvorderen befestigten einst
sogar die Fuchskerne im Geäst und halfen
somit verschiedenen Vogelarten beim
Uberwintern. Das sollte heute mal einer
riskieren. Heerscharen von
Tierschützern, Jagdgegnern und andere
Spezialisten würden diesem Heger und
Pfleger am liebsten selbst das Fell über
die Ohren ziehen.
Aber nun wieder zurück zu den beiden
Sauen. Bergen konnte ich sie an diesem
ereignisreichen Wintertag nicht mehr. Ein
Hauch winterlicher Dämmerung senkte sich
bereits über das Moseltal. Anheimelnd
blinkten und glitzerten die
Weihnachtsbäume vor den Häusern und
Straßenlaternen des Dorfes zu mir
herauf. Die altehrwürdige Klosterruine
Stuben jenseits des Flusses begann mit
der Umgebung zu verschmelzen. Es wurde
allerhöchste Zeit, die Schwarzkittel zu
versorgen.
Alles Hinderliche wurde abgelegt, und
der Kampf gegen die Zeit und die
mannigfaltigen Dornen begann. Teilweise
auf dem Bauch kriechend, gelangte ich
über prächtig nach Sauen riechende
Wechsel endlich an meine erkämpfte
Beute.
Die Versorgung selbst war Routinesache
und in wenigen Minuten erledigt. Um ein
Abrutschen in die Tiefe zu verhindern,
hakte ich die 45-Kilo-Sau mit Hilfe eines
Strickes an einer tiefastigen Eiche fest;
zur Verwitterung und Verblendung baumelte
mein durchschwitzter Schal an einem der
unteren Aste.
Dörfliche Anteilnahme
In völliger Dunkelheit erreichte ich
dann letztendlich erschöpft und naß bis
auf die Knochen die sichere Straße. Dort
empfing mich ein lieber, guter Bekannter,
der Herbert Treis. Er hatte die ganze
Aktion von seinem Haus aus beobachtet.
Besorgt, ob wohl alles gut verlaufen sei,
kam er einfach mal schauen.
Die Bergungsaktion am nächsten Morgen
mit dem Jägeranwärter Klaus und dem
jungen, drahtigen Dieter war für etliche
Bremmer Bürger nochmals eine willkommene
Attraktion. Einer, der Theobald, meinte
später: "Mensch, Rolef, dat woar
spannender wie en Fernsehkrimi..."
Und noch was: Am Dreikönigstag (6.
Januar), vier Tage nach meinem
Waidmannsheil, fand die traditionelle
Waldbegehung mit anschließendem
Neujahrsempfang statt. Zu dieser
Veranstaltung zu Beginn des neuen Jahres
werden vom Bürgermeister Herbert Schmitz
Leute eingeladen, die sich in irgendeiner
Form verdient gemacht haben.
Ein netter und mittlerweile fester Brauch
ist ferner, daß Wildbret aus heimischem
Revier als kulinarischer Gaumenschmaus
hierbei gereicht wird. Dieses Wild, auch
das ist Tradition, spendieren die beiden
Jagdherren.
Ja, und so gelangte die stramme
Uberläuferbache aus der Felsenregion des
Calmont auf die Tische und Teller der
guten Stube der Gemeinde: der
Calmonthalle.
Als der agile Bürgermeister seine
dritte oder vierte? Rede beendet hatte,
forderte er mich unvermittelt auf, die
Geschichte der Calmont-Saujagd, von der
mittlerweile sogar in der Heimatpresse
berichtet wurde, zu schildern. Nach
anfänglichem Zögern und Zaudern begann
ich mit dem Erzählen. Und siehe da: Die
Leute, jung und alt, hörten begeistert
zu. Sogar unser Pastor spitzte wie es
schien voller Andacht die Ohren. Der
abschließende Applaus bestätigte mir
wieder mal: In unserem Dorf gibt es keine
Jagdgegner. Allein dafür ein kräftiges
Waidmannsdank.
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