Geschichtliche Parallelen Geschichte und Anekdoten von Bremm und Kloster Stuben
Hildegard Moos-Heindrichs, 1997 Das Stubener Christkind

Das Stubener Christkind

Ein Geschenk des Himmels

Während ihre Mitschwestern in der Kapelle die Christmette feierten, brachte Schwester Hilleburgis, mutterseelenallein in ihrer Zelle, ihren Erstgeborenen zur Welt.

Soeben hatte der Propst in der Kapelle nebenan das Gloria angestimmt, als eine letzte Preßwehe das Kind zutage förderte und die Angst, entdeckt zu werden, ein Ende nahm. Sie zerschnitt die Nabelschnur, band sie mit einem Faden ab, wusch den Säugling notdürftig in einer Waschschüssel und wickelte ihn in ein Handtuch. Dann beseitigte sie alle Spuren des Geburtsgeschäftes, nicht ahnend, daß in wenigen Minuten die Nachgeburt eine zweite Säuberung nötig machen würde.

Bald betrat die Priorin die Zelle, um nach der Krankgemeldeten zu schauen, und fand ein schmales blasses Gesicht, fast noch ein Mädchengesicht, den Kopf kahlgeschoren, unter den groben, aber reinlichen Leintüchern hervorlugen.

"Oh, Ihr braucht ärztlichen Beistand?" fragte sie.

Hilleburgis schüttelte den Kopf und schlug die Augen nieder. Aber schon war die Priorin, ohne weitere Untersuchungen anzustellen, wieder aus der Zelle geeilt.

Es dauerte nicht lange, und ein Schwarm jungen Novizinnen flatterte herein, die sogleich den Rosenkranz zu beten begannen. Hilleburgis lag regungslos und mit geschlossenen Augen auf ihrem Lager. Nur hin und wieder nippte sie an der Teetasse, die ihr die Küchenschwester gebracht hatte. Im übrigen überließ sie sich gern dem frommen Geschnatter in ihrer Klause nach all den einsamen Stunden der Geburtswehen.

Plötzlich schrieh der kleine Wurm unter der Bettdecke. Das Gemurmel brach mit einem Mal ab. Schwester Gertrudis, das Küken im Noviziat, stürzte ans Krankenlager, schlug die Decke zurück und fand das rosige, winzige Etwas in den Armen ihrer Mitschwester.

"Das Jesuskind, wahrhaftig, das Jesuskind", hauchte Gertrudis fassungslos und sank ehrfürchtig in die Knie.

"Wahrhaftig, das Jesuskind", kam das Echo aus den übrigen Kehlen.

Hilleburgis sah sich unerwartet von lauter Bewunderinnen umringt, die ihrem Entzücken nicht genug Ausdruck verleihen konnten: "Wie niedlich, die Fingernägelchen, die Ohrmuscheln, die Stupsnase!" Bis die Novizinnenmeisterin den Huldigungen ein Ende bereitete, indem sie ihre Schützlinge wegen der Nachtzeit in die Zellen beorderte.

Am nächsten Morgen stellte sich, wie von Engeln herbeigeflogen, alles Erdenkliche ein, was eine Wöchnerin nur so wünschen konnte: Windeln, Babyhemdchen, Brusttücher, Wickelbänder, Rässelchen ... Mit Tränen in den Augen umstanden die Spenderinnen das Bett, wagten kaum zu sprechen, aus Furcht, das schlafende Kind zu wecken, und schlichen auf Zehenspitzen wieder hinaus.

Die junge Mutter erholte sich schnell, und schon nach wenigen Tagen war sie in der Lage, am Gebetsleben des Konvents teilzunehmen. Als sie zum ersten Mal nach der Geburt den Nonnenchor betrat, nickte ihr die Priorin nur aufmunternd zu, als hätte sich nichts weiter als die Genesung einer ihrer Klosterfrauen ereignet. Dies war verständlich, weil schon in jener Heiligen Nacht ein Gespräch unter vier Augen zwischen der Priorin und der Novizinnenmeisterin stattgefunden hatte. Darin hatte es immer wieder geheißen: "Der Glaube unserer unschuldigen Vögelchen darf nicht gefährdet werden."

Bis Mariä Lichtmeß blieb Hilleburgis noch von allen Klosterarbeiten befreit, aber auch hernach bekam sie mancherlei Rücksichtnahme zu spüren. Wenn sie wegen der Stillzeiten zu spät am Mittagstisch erschien, traf sie kein mißbilligender Blick. Im Gegenteil, man suchte ihr die Wünsche von den Augen abzulesen. Sie brauchte nicht nach Babyhütern Ausschau zu halten, jederzeit boten sich mehrere Mitschwestern zur Betreuung des Kindes an. So wuchs der Säugling, von vielen Frauenhänden gehegt und gepflegt, bald prächtig heran, und obwohl er dem Propst wie aus dem Gesicht geschnitten war, wurde er der Anlaß klösterlicher Freude, ja, der Stolz des ganzen Konvents.

Endlich sollte in den stillen Gängen ein wirkliches Kind aus Fleisch und Blut herumtollen. Ach, der Jesusknabe auf Marias Schoß hatte sich nie geregt, so oft man die Krippe auch aufgestellt hatte: stets daßelbe unvergängliche Lächeln, stets daßelbe blauäugige Aussehen, stets dieselbe hingebungsvolle Armhaltung. Dieses lebendige Kind aber, das dem Kloster in der Heiligen Nacht geschenkt worden war, würde lachen und weinen, die Augenlider heben und senken, die Ärmchen ausbreiten und verschränken und für so manche Überraschung sorgen.

Hätten die Novizinnen gewußt, wie man ein solch lebendiges Menschenkind erwerben könnte, gewiß hätten Sie keine Mühe gescheut, derselben Gnade teilhaftig zu werden, wie sie Schwester Hilleburgis gewährt worden war.

Als die Zeit des Breiessens nahte, saß der Kleine schon mit am Tisch und beherrschte die Tafelrunde. Alle Aufmerksamkeit galt nur ihm; ein Wink genügte, und ungezählte Leckerbissen wanderten zu seinem Teller. Beim Nachtisch stauten sich die Gaben vor seinem Platz.

Im Sommer lernte der Kleine, seine Gönnerinnen selbst auszuwählen. Auf allen Vieren kroch er in die Kammern seiner Lieblingsfrauen, so daß seine Mutter ihn oft zur Nachtruhe rufen mußte. Anfangs ließ er sich geduldig forttragen, als er aber feststellte, daß seiner nur das Bett wartete, schrie er zum ersten Mal so durchdringend, daß im Nu der gesamte Konvent in Hilleburgis' Zelle versammelt war. Sofort verstummte der kleine Schreihals und weidete sich an dem Anblick so vieler besorgter Gesichter.

Hände streckten sich ihm entgegen, die eine mit Zuckerstücken, die andere mit Heiligenbildchen, wieder andere mit einem Rosenkranz. Fortan schlief der Junge nie wieder in seinem Bettchen ein und ließ sich nur schlummernd auf ein Lager betten.

Es war Advent, als der beinahe Einjährige seine ersten freihändigen Schritte wagt. Die Schwestern waren gerade beim Chorgebet, da sprang die Tür auf, und der Kleine stolzierte in die Kapelle. Mit einem Schlag brach der Gesang ab. "Er kann ja schon laufen!" flog es von Mund zu Mund, und das Gegacker wollte nicht enden. An diesem Tag gab es keine Gebetsstunde mehr. Das Laufenkönnen des Jungen ließ alle Pflichten vergessen.

Der nächste Sonntag war Laetare. Was lag da näher, als einen Dankgottesdienst zu feiern. Der Propst las die Messe und hatte Mutter und Kind in der ersten Reihe Platz nehmen lassen. Da der fremde Herr es immer wieder holdselig anlächelte, rutschte es plötzlich von der Bank und begab sich, abwechselnd kriechend und unsicher tapsend, zum Altar. Schon reckte es seine Ärmchen dem Propst entgegen, so daß dieser, obwohl er gerade zur Wandlung schreiten wollte, das Kind emporhob und laut und vernehmlich sagte: "Deo gratias."

Er vergaß vor lauter Begeisterung, den Gottesdienst zu Ende zu führen; stattdessen ließ er das Kind mit den Wandlungsglöckchen spielen, zeigt ihm, wie man Kerzen auspustet, wie man das Tabernakel öffnet, wie man Weihwasser über die Gläubigen sprengt. Die Nonnen suchten Zuflucht in den Beichtstühlen und zwitscherten, um die Aufmerksamkeit des Kindes auf sich zu lenken, in allen Tonlagen: "Kuckuck!" Nun wollte der Junge den Vogelstimmen nachgehen. Wie jubelte er jedes Mal, wenn er statt eines Kuckucks eine Nonne entdeckte. Zuletzt wollte er sich selbst verstecken. Er deutete auf das kleine vergoldete Kästchen auf dem Altar, das noch einladend offenstand. Niemand von den Großen hätte hineingepaßt. So war es nicht verwunderlich, daß dieses Kerlchen, so lange es seine Körpergröße erlaubte, der Einladung zu folgen wünschte. Ehe das Kind seinen Willen deutlicher kundtat, hatte der Propst es schon in das Tabernakel gesteckt und das Türchen zugezogen. Nun aber tobte der Kleine, unerwartet des Lichts beraubt, der Behälter begann zu schwanken, aber nur Sekunden; denn sofort befreite der Propst den Jungen wieder und überließ ihn seinen vielen Ersatzmüttern, die von allen Seiten herbeigeströmt kamen.

Für dieses Mal war damit die Spielstunde beendet. Aber nun drängte das Kind bei der kürzesten Andacht ins Gotteshaus, so daß ohne es keine kirchliche Veranstaltung mehr denkbar war. Es dünkte ihm kein Vergnügen köstlicher, als eine fromme Versammlung in eine fröhliche Spielgemeinschaft zu verwandeln.

Schließlich lag der gesamte Klosterbetrieb lahm. Nicht einmal die Weihnachtskrippe wurde zum Fest aufgebaut, denn das Jesuskind war ja leibhaftig im Kloster anwesend.

So kam es, daß weder das Fest der Unschuldigen Kinder noch Dreikönig in das Bewußtsein der Klosterfrauen drang. Nur als sich dann im Februar einige kostümierte Kinder an der Klosterpforte zeigten, begriff Gertrudis, die gerade den Türdienst versah, den Stand des Kirchenjahres. Sie bat einen kleinen Indianer um seinen bunten Kopfschmuck und drückte ihm ein paar Kerzenstummel in die Hand. Da beeilte sich nicht nur das Angesprochene, sondern auch die anderen Kinder, ihren Federputz abzunehmen und der Schwester auszuhändigen. Über und über mit Federn behängt, tauchte Gertrudis zur Essenszeit im Refektorium auf. "Es ist ja Fastnacht!" rief der überraschte Konvent. Etliche versuchten, ihrer Mitschwester den Schmuck zu entreißen, andere legten ihren Schleier ab, um ihre Bereitschaft zur Verkleidung zu bekräftigen. Im Nu hatten sich, soweit die Mitbringsel reichten, die Ordensfrauen in eine Gruppe Wilder verwandelt, die mit wichtigen Gebärden bei dem Jesusknaben Eindruck schinden wollten. Doch dieser ließ sich, so lange es ihm mundete, nicht beeindrucken. Endlich war das Dankgebet gesprochen, da zog es die Frauen in ihre Zellen. Die Ordenstracht wurde an den Nagel gehängt und durch eine karnevalistische Kostümierung ersetzt, aus Laken, Tischdecken, Vorhängen, Schal zusammengewürfelt. Die Nonnen waren kaum wiederzuerkennen, als sie sich in ihrer neuen Aufmachung dem Jungen präsentierten. Kreischend und kischernd hüpften sie um ihn her und stießen wilde Schreie aus, die das Kind mit Vergnügen erwiderte.

Über all dem Treiben hatte die "Häuptlingsfrau" den Termin der nächsten Visitation aus dem Auge verloren. Als die Ausgelassenheit dem Höhepunkt zustrebte, meldete der Propst - sein ernstes Gesicht paßte so gar nicht zu der lustigen Bemalung um Augen und Mund - die Ankunft des Bischofs. Mit einem Mal erstarb alle Freude. Totenstille trat ein, so daß das Kind vor Schreck zu weinen begann. Einige Nonnen versuchten noch mit Faxen und Grimassen, den Kleinen aufzuheitern, da stand plötzlich Seine Eminenz im Türrahmen, sichtlich erstaunt über das Bild, das sich ihm bot. Die Priorin warf sich sogleich zu Boden, die Novizinnenmeisterin fiel auf die Knie. Hilleburgis kreuzte ergeben die Arme über der Brust. Aber niemand fand ein erklärendes Wort.

"Es ist 19 Uhr", brach der Bischof das Schweigen, "warum haben Sie sich nicht zur Komplet in der Kapelle versammelt? Warum haben Sie das Ordenshabit abgelegt und gegen eine solch lächerliche Verkleidung getauscht?" Doch er erhielt keine Antwort.

So streng, beinahe scharf, hatte der Kleine noch keinen Menschen sprechen gehört. Zuerst verzog er nur das Gesicht, dann aber setzte er zu einem solch durchdringenden Gebrüll an, daß selbst der Bischof zusammenzuckte. "Wer ist der Junge?", fragte er verwundert, "wie kommt er in dieses Kloster?"

Nun war es Gertrudis, die als erste die Sprache wiederfand und laut und bestimmt verkündete: "Es ist doch das Jesuskind! Weiß Eure Eminenz nicht, daß es schon vor einem Jahr zu uns gekommen ist?"

"Hm", stutzte der Bischof, "doch, doch", und er beugte sich nieder, um es väterlich auf seinen Arm zu nehmen. Das Kind beruhigte sich rasch und legte, sobald es das frisch rasierte Kinn des hohen Herrn spürte, das Ärmchen um dessen Hals. Es schien so, als habe es auf ein männliches Wesen gewartet. Ob nun der Bischof nicht wagte, den Jungen abzuschütteln, oder ob er die Zärtlichkeit zu sehr genoß, es war nicht auszumachen; jedenfalls blieben der kleine und der große Mann für diesen Abend ein Herz und eine Seele, bis das Kind wie in Abrahams Schoß auf den Schenkeln Seiner Eminenz einschlief.

Infolge dieser wundersamen Wendung hätte der Junge vielleicht durch die Protektion des Hochwürdigsten Herrn Bischofs im Kloster zu einem erwachsenen Mann heranreifen können, wäre nicht, ja wäre nicht ein zweites Jesuskind geboren worden. Jene Verdopplung hätte, offen gestanden, die Erziehung des Einzelkindes vereinfacht. Aber die Wahrheit ist, daß die Zeit der Geburt den Ausschlag gab. Das Kind erblickte nämlich nicht in der Heiligen Nacht das Licht der Welt, sondern am Fest der Heiligen Familie, ich glaube, in der Zelle einer der Oberglucken.

Außerdem soll es ein Mädchen gewesen sein.


Die Texte wurden vom Originaldokument (mit evtl. Fehlern) übernommen, ohne Anpassung an die aktuelle deutsche Rechtschreibung. Eine Geschichte von Hildegard Moos-Heindrichs, Urmersbach / Eifel
Aus: "Meine Weihnachtsgeschichte", Avlos-Verlag 1997, Bonn
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